Bekannt geworden durch einen tragischen Mordfall in den 60er Jahren hat dieser robuste, sozialpsychologische Effekt wenig von seiner Brisanz eingebüsst. Lesen Sie in diesem Blog, worum es dabei geht.
Kennen Sie Kitty Genoveses' Geschichte?
In den 1960er Jahren erschütterte der Mord an der jungen Kitty Genovese die Bevölkerung. Sie wurde angegriffen, vergewaltigt und getötet. Nicht minder erschütterte dabei der Umstand, dass diesem Verbrechen etwa drei Dutzend Personen zugeschaut haben, denn der Ort des Geschehens befand sich direkt vor Kitty Genoveses Wohnhaus, ein dicht besiedeltes Areal mitten in Queens, New York - doch niemand griff ein, half, verhinderte, rettete. Die Schlagzeile der New York Times am 27. März 1964 lautete: "37 who saw murder didn't call the police." Aber fangen wir vorne an.
Die US-Amerikanerin war nachts auf ihrem Weg nach Hause. Fast zu Hause wurde sie von einem Mann angegriffen, wobei sich der Übergriff etwa eine halbe Stunde hinzog und zwar an zwei verschiedenen Stellen auf dem Areal. 37 Personen sollen aus ihren Fenstern heraus zugesehen haben, ohne dass jemand der Frau zu Hilfe gekommen sei. Als Folge dieses Umstands wurde der Zuschauer-Effekt begründet.
Was ist der Zuschauer-Effekt?
Auch bekannt als "Bystander-Effekt" beschreibt der Zuschauer-Effekt das Phänomen, dass Zuschauer eines Verbrechens oder Unfalls umso unwahrscheinlicher eingreifen, umso mehr Personen ebenfalls anwesend sind. In anderen Worten nimmt die Wahrscheinlichkeit auf Hilfe mit der Anzahl Zuschauer ab. Die Untersuchungen dazu gehen auf die Psychologen John M. Darley und Bibb Latané zurück, die als Hauptursachen des Verhaltens die Verantwortungsdiffusion und die pluralistische Ignoranz anführten.
Die Verantwortungsdiffusion beschreibt das Phänomen, dass eine Aufgabe nicht ausgeführt wird, obwohl genügend Personen da wären, die dies tun könnten. Denn sind andere Personen anwesend, ist unklar, wem die Ausführung der Aufgabe obliegt. Die Verantwortung "diffundiert", also verteilt sich auf die anwesenden Personen. Sind andere Personen anwesend, die eine Aufgabe genau so gut erledigen könnten, erledigt man sie nicht selbst und hofft, dass eine der anderen Personen dies übernimmt.
Die pluralistische Ignoranz beschreibt die Situation, in der eine Mehrheit etwas insgeheim ablehnt, doch irrtümlicherweise annimmt, dass die Mehrheit das Jeweilige akzeptieren täte. Jeder glaubt, dass jeder andere dies auf eine bestimmte Weise sieht und so schliesst man sich nach aussen hin an und verhält sich konform, insgeheim aber sieht man es selbst anders oder es ist einem unklar. Dabei wird das Verhalten der anderen in einer spezifischen, unklaren Situation beobachtet und man versucht, daraus deren diesbezügliche Einstellung abzuleiten. Ist diesen anderen Personen allerdings ebenfalls unklar, wie man sich in dieser Situation zu verhalten habe, beobachtet man sich gegenseitig, nichts geschieht, es entsteht pluralistische Ignoranz.
Die Folgen solcher Gruppendynamiken können dazu führen, dass in einer Notfallsituation - wie bei Kitty Genovese - niemand hilft.
Neuere Erkenntnisse
Neue Untersuchungen des Falls Kitty Genovese zeigen, dass sich die Situation damals anders abgespielt haben dürfte, als ursprünglich angenommen. Aufgrund der örtlichen Gegebenheiten kann man schliessen, dass die Zusehenden nur in der Lage gewesen waren, den ersten von zwei Teilen des Verbrechens mitzuverfolgen. Der zweite und fatale Teil des Angriffs erfolgte an einer Stelle auf dem Areal, die nicht gut einsehbar gewesen war. So waren die meisten nur Zeugen eines Teils des Geschehnisses, sodass man spekulieren kann, dass diese Zuschauer womöglich die Ernsthaftigkeit der Lage auf dieser Basis nicht hatten einschätzen können. Die Schlagzeile der New York Times mutet insofern reisserisch an und bildet die Sachlage nicht unbedingt korrekt ab.
Auch wenn sich der Übergriff an Kitty Genovese wohl anders zugetragen hat, als zunächst angenommen, handelt es sich beim Zuschauer-Effekt nichtsdestotrotz um einen psychologischen Effekt, der sich robust in vielen Situationen zeigt. Dabei gibt es fünf Stufen, die durchlaufen werden müssen, damit Hilfe tatsächlich erfolgt, wie als Nächstes beschrieben wird.
Der 5-Stufen-Prozess
Die bereits erwähnten Psychologen Latané und Darley entwickelten ein Modell für Hilfeverhalten, der sogenannte 5-Stufen-Prozess. Diese fünf Stufen entscheiden darüber, ob in einer Notfallsituation Hilfeverhalten ausgeführt wird. Nur wenn jede Stufe nacheinander durchlaufen wird, leistet eine Person Hilfe.
Stufe: Die Situation muss wahrgenommen werden. Wird eine Situation nicht wahrgenommen, kann nicht darauf reagiert werden. Dies ist vergleichbar mit einem Spinnenphobiker, der sich in einem Raum aufhält, in dem auch gerade eine Spinne ist. Doch der Spinnenphobiker nimmt diese nicht wahr, weiss nichts von deren Anwesenheit, also reagiert er auch nicht auf sie. Ganz im Sinne von: Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss.
Stufe: Die Situation muss als Notfallsituation erkannt und bewertet werden, also als eine Situation, die ein hohes Risiko beinhaltet. Dabei gibt es eindeutigere Situationen, wie ein Autounfall, oder uneindeutigere Situationen, wie bspw. ein sich streitendes Paar. Das eigene Verhalten wird durch die Präsenz anderer Personen und deren Verhalten beeinflusst: Sind weitere Personen da, die nicht reagieren, senkt das die Wahrscheinlichkeit, dass die Situation als Notfall erkannt wird (pluralistische Ignoranz).
Stufe: Die zusehende Person muss sich selbst als in der Verantwortung stehend wahrnehmen und bereit sein, diese persönlich zu übernehmen. Das Verantwortungsgefühl nimmt ab, umso mehr Personen anwesend sind. Denn dann verteilt sich die Verantwortung auf die Anwesenden, was die Wahrscheinlichkeit senkt, dass jemand die Verantwortung tatsächlich persönlich übernimmt (Verantwortungsdiffusion).
Stufe: Auch wenn die drei vorangegangenen Stufen erfolgreich durchlaufen wurden und feststeht, dass geholfen werden sollte, weiss man nicht immer, wie. Weiss die zusehende Person nicht, was sie tun oder sagen kann, verfügt sie über keinerlei Verhaltensrepertoire für diese Notfallsituation, hat sie keinen Notfallplan, verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass eingegriffen wird. So weiss man zum Beispiel aus Studien, dass Personen, die einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert haben, eher helfen.
Stufe: Ehe Hilfe ausgeübt wird, erfolgt eine interne Bilanzierung. Hat die Person Angst vor möglichen negativen Konsequenzen, die durch das Eingreifen entstehen könnten, hilft sie eher nicht. Dazu können Ängste vor eigenen Verletzungen gehören, soziale Normen, die man eventuell tangieren könnte, oder auch die Befürchtung, sich durch das Hilfeverhalten zu blamieren oder sich strafbar zu machen.
Angst
Angst kann in Stufe 5 dazu führen, dass nicht geholfen wird. Bei Angst reagiert der Mensch auf drei mögliche Arten: Entweder mit Flucht, mit Kampf oder mit Freeze. Während den meisten die ersten beiden typischen Angstreaktionen bekannt sein dürften, kennen nicht alle den Freeze. Der Volksmund aber weiss von ihm: man ist starr vor Angst.
Immer mal wieder berichten mir meine Patientinnen und Patienten von Situationen, in denen sie hätten eingreifen oder sich wehren "müssen", doch sie seien wie fest gefroren gewesen. In der Regel handelt es sich dabei um Freeze-Verhalten in angstbesetzten Situationen. Dies erfolgt meist dann, wenn Flucht oder Kampf nicht möglich wären, oder auch, wenn sich Freeze im eigenen Leben bislang womöglich aufgrund entsprechender, lebensgeschichtlicher Erfahrungen als dominante Angstreaktion durchgesetzt hat.
Etwas vom Besten, das man tun kann, ...
... ist, sich noch heute vorzunehmen, dass man jemand sein will, der hilft, immer vorausgesetzt, der Selbstschutz ist gewährleistet. Dies auch bei unklaren Situationen, wenn viele andere dabei stehen, wenn man sich blamieren könnte, etc. Lieber einmal zu viel reagiert als einmal zu wenig. Ein solcher Mindset fördert die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich Hilfe geleistet wird, und möglicherweise hätte dieser Mindset über die Jahre viele Leben gerettet, vielleicht - doch das ist rein spekulativ - auch dasjenige von Kitty Genovese.
Lesetipps
Klaus Jonas, Wolfgang Stroebe, Miles Hewstone (2014). Sozialpsychologie, eine Einführung. Springer: Heidelberg.
Autorin
Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.