Dieser Blog-Artikel bietet einen Einblick in die Welt von Familien mit einem auf lange Sicht kranken Kind und zwar aus psychologischer Sicht.
Definition und Häufigkeit Chronische Krankheiten sind lang andauernde Krankheiten, die nicht oder nicht ganz geheilt werden können. Als Folge kommt es zu einer ständigen oder immer wiederkehrenden Inanspruchnahme von Leistungen aus dem Gesundheitssystem. In der Schweiz leiden etwa 20% der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen an einem chronischen Gesundheitsrisiko, wobei etwa 5% eine chronische Krankheit haben. Was das konkret bedeutet, schauen wir uns anhand einer exemplarischen Familie an: Familie Müllers Welt Familie Müller war eben erst ins eigene Haus eingezogen, als sich das dritte Kind ankündete. Die Schwangerschaft verlief soweit problemlos, doch nach der Geburt wurde rasch klar, dass etwas nicht stimmte. Der kleine Leo bewegte sich kaum und auch heute als 4jähriger kann er nicht gehen. Leo spricht bis heute kein einziges Wort. Er spielt nicht mit den Spielzeugen, mit denen seine beiden älteren Schwestern in seinem Alter gespielt haben, er scheint sich wenig für seine Umwelt zu interessieren. Nun ist die Familie im Begriff, diverse ärztliche Abklärungen durchzuführen. Jeder Termin ist vollbepackt mit der Hoffnung, dass nun geklärt würde, was los sei. Doch bislang wurde die Ursache nicht gefunden, es ist noch immer unklar, woran Leo leidet. Die Ungewissheit ist belastend. Da Leo intensiven pflegerischen Bedarf hat, kehrt Frau Müller nicht wie ursprünglich geplant an ihren Arbeitsplatz zurück. Sie widmet sich voll und ganz der Pflege von Leo, nebenbei ist sie Hausfrau. Herr Müller hat sein 100% Arbeitsverhältnis beibehalten, die fünfköpfige Familie wird finanziell durch sein Einkommen gestützt. Beide Eltern sind zunehmend gestresst - Frau Müller, da es ihr daheim trotz grosser Liebe zu all ihren Kindern und dem Ehemann allmählich zu viel wird, Herr Müller, da ihn die grosse Last der Verantwortung der Finanzierung der Familie mit Eigenheim zu erdrücken scheint, bei gleichzeitigem Gefühl von Hilflosigkeit, da das, was er tut, doch nicht zu reichen scheint. Die beiden älteren Schwestern muten immer belasteter an: die ältere zeigt schlechtere schulische Leistungen sowie ein Rückzug von ihren sozialen Kontakten, die jüngere der beiden Schwestern ist aggressiv, impulsiv, es kam bereits zwei Mal zu Elterngesprächen, da sie aufgrund von Konflikten mit ihren Mitschülern aufgefallen war. Wer ist betroffen? Selbstverständlich ist das kranke Kind betroffen - doch nicht nur. Stellen Sie sich einen Stein vor, der in einen ruhigen See geworfen wird. Bewegt er das Wasser nur da, wo er einschlägt? Nein, das Wasser bewegt sich auch rundherum um die Einschlagstelle. Das Wasser bewegt sich in Wellen, die am stärksten da sind, wo sie am nächsten an der Einschlagstelle des Steins sind, und sich mit zunehmender Distanz davon verlieren. Damit möchte ich aufzeigen, dass immer auch die Familie des chronisch kranken Kindes mitbetroffen und dass das ganze Familiensystem beteiligt ist, allen voran die Eltern sowie die Geschwister. Zu unterscheiden sind direkte von indirekten Belastungen. Unter direkten Belastungen wird nebst anderem das folgende verstanden:
Symptome durch die chronische Erkrankung: Damit sind Einschränkungen durch die jeweiligen Symptome an sich zu verstehen. Dass zum Beispiel das jüngste Kind der Familie Müller nicht gehen kann, beeinflusst unter anderem das Freizeitverhalten der Familie. Während es früher möglich war, gemeinsam leichte Bergwanderungen zu unternehmen, bei denen die beiden gesunden Geschwister mitmachen konnten, ist das mit Leo nicht umsetzbar. Anstelle dessen erfolgen vermehrt Spaziergänge auf flachem Gelände, wo Leo im Kinderwagen mitgenommen werden kann.
Manchmal langwieriger Weg zur Diagnose: Mitunter handelt es sich um eine seltene Erkrankung oder eine mit diffusem Symptombild, sodass sie nicht auf Anhieb erkannt wird. So kann es - wie bei Familie Müller - passieren, dass über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder neue Ärzte aufgesucht werden, die nach der Diagnose forschen. Jeder neue Arzt weckt die Hoffnung, dass die Diagnose nun benannt werden würde, was sich jedoch wieder zerschlagen kann.
Behandlung der chronischen Erkrankung: Betroffene Kinder benötigen oftmals spezielle Behandlungen, wie zum Beispiel Physio-, Ergo-, Psychotherapie oder Logopädie. Diese Termine müssen organisiert und wahrgenommen werden, was nebst dem sonstigen Familienalltag aufwändig sein kann.
Hohes Risiko für psychische Störungen: Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen haben ein 3-5 Mal erhöhtes Risiko für die Entwicklung psychischer Störungen, verglichen mit Kindern und Jugendlichen ohne chronischer Erkrankung. Dabei stehen besonders emotionale Störungen namentlich depressive Verstimmungen, Selbstwertprobleme und Ängstlichkeit im Vordergrund.
Soziale Folgen: Aufgrund der chronischen Erkrankung ist es mitunter nicht möglich, regelmässig die Kita, den Kindergarten oder die Schule zu besuchen, so können Kontakte mit Gleichaltrigen eingeschränkt sein, es kann zu geringer sozialer Aktivität kommen und ein sozialer Rückzug erfolgen. Es ist möglich, dass sich als Folge Defizite punkto soziale Kompetenz einstellen. Auch werden so der Schulverlauf und die Entwicklung von Interessen und Hobbies potenziell beeinträchtigt.
Unter indirekten Belastungen kann das folgende verstanden werden:
Auswirkungen auf die Eltern: Die Eltern können psychisch unter der Erkrankung leiden, zum Beispiel wegen Ängsten, Schuldgefühlen, Überforderung oder Partnerschaftsproblemen. Das ist wenig verwunderlich in Anbetracht dessen, dass Eltern oft über lange Zeit aushalten, kämpfen, isoliert sind, Angst haben, fürs eigene Kind stark sind, die eigenen Bedürfnisse hinten anstellen, eigene Träume auf die Wartebank stellen, traurig oder wütend sind und vieles mehr. Dazu kommen häufig finanzielle Schwierigkeiten, wie auch bei Familie Müller, die aufgrund des fehlenden Einkommens von Frau Müller Mühe damit hat, das Haus abzubezahlen.
Auswirkungen auf die Geschwister: Die Geschwister von chronisch kranken Kindern leiden häufig unter zu geringer Aufmerksamkeit. Die eigenen Wünsche und Bedürfnisse sind oftmals zurückgestellt. Belastende Themen wie Krankheit und Tod sind alltäglich und allgegenwärtig. Die Eltern sind emotional oder physisch oft wenig präsent. Dies kann zu einem Rückzugs- oder zu einem Angriffsverhalten führen - wie bei den beiden älteren Schwestern in der Familie Müller, wo eines der Mädchen schlechte Schulnoten und ein soziales Rückzugsverhalten zeigt (Rückzug), das andere hingegen durch aggressives, impulsives Verhalten auffällt (Angriff). Diese Kinder werden auch oft Schattenkinder genannt.
Auswirkungen auf den erweiterten sozialen Kontext: Weitere Personen im Umfeld des kranken Kindes können davon betroffen sein. Zum Beispiel die eigenen Grosseltern, Klassenkameraden, Nachbarskinder oder Lehrpersonen.
Dabei ist die jeweilige Belastung zum einen vom Individuum und dessen Ressourcen abhängig, zum anderen auch von der Krankheitsphase, in dem sich das kranke Kind befindet. Eine häufige Beobachtung meinerseits ist, dass die Eltern von kranken Kindern in akuten Phasen in eine Art Funktionsmodus geraten. Erst, wenn die akute Phase vorüber ist und es dem kranken Kind wieder besser geht, leiden die Eltern - vorher war wie keine Zeit da, um sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern. So berichtete mir auch Frau Müller, dass dann, als es Leo nach einer schlimmen Phase wieder besser gegangen sei, sie selbst zusammengebrochen sei. Dies sei in ihrem Umfeld auf Unverständnis gestossen, man habe ihr gesagt: "Jetzt, wo es deinem Sohn gut geht, solltest du überglücklich sein!" Doch das Gegenteil war der Fall. Jetzt ging es um die Aufarbeitung von all dem, was während der akuten Phase beiseite geschoben worden war. Was besagt das allostatische Modell? In diesem Zusammenhang vermag das allostatische Modell etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Es besagt das folgende: Der Mensch kann sich biopsychosozial kurzfristig an Stress anpassen. Durch diese Anpassungsfähigkeit gelangt er nicht in ein neues Gleichgewicht, sondern es handelt sich dabei um Allostase. Das ist eine Anpassungsleistung, um mit Anforderungen zurechtzukommen. Ist die Belastung vorüber, dann kehrt die Person in ihr Gleichgewicht zurück. Doch bleibt der Stress, ist ein Rückgang zum Gleichgewicht nicht möglich, der Mensch leidet an der allostatischen Last. Für Familien mit chronisch kranken Kindern bedeutet das, dass über die Zeit hinweg allostatische Last aufgebaut wird. Ist die Belastung zu gross, dann können sich mehr und mehr Probleme einstellen. Ich denke dabei an einen Ast, der mit schweren Gewichten behangen wird. Jeder Ast bricht irgendwann, wenn die Last zu gross wird. Kein Ast bricht niemals, jeder bricht irgendwann. Was braucht es? Betroffene Familien benötigen Unterstützung und dies individuell abgestimmt je nach Bedarf. Dazu gehören kann bspw. die psychiatrische Spitex oder auch ein systemisch orientierter Psychotherapeut, der in der Lage ist, die Familie mit all ihren Mitgliedern über einen langen Zeitraum zu begleiten. Umso komplexer die familiäre Situation, umso mehr Sinn ergibt ein Case Manager, der die Zügel in der Hand hat und die verschiedenen Helferfiguren koordiniert, Hilfsangebote kennt, konkrete Hilfe organisieren kann. Ärzte können entsprechende Familien proaktiv auf Belastungen ansprechen. Proaktives Ansprechen weckt niemals schlafende Hunde - sind Hunde da, sind diese schon wach. Schliesslich sind rehabilitative Aufenthalte in entsprechenden Kliniken oft sinnvoll, nur schon, um aus dem täglichen Einerlei herauszukommen und ganzheitlicher entlastet zu werden. Wie ging es weiter mit Familie Müller? Weiterhin ist ungeklärt, woran Leo leidet. Die familiäre Situation ist weiterhin angespannt. Immerhin brachte ein Reha-Aufenthalt in einer familienorientierten Klinik etwas Entspannung. Die beiden Geschwister befinden sich nun bei einem guten Kinderpsychotherapeuten, der sich dem Angriffs- bzw. dem Rückzugsverhalten angenommen hat. Frau Müller geht online Psychotherapie-Terminen nach, da vor Ort Termine für sie schwierig umzusetzen sind. Dabei bearbeiten sie Themen wie Verarbeitung vom erlebten Stress, Aktivierung von Ressourcen und auch ein Eltern-Coaching findet statt. Autorin Dr. phil. Sandy Krammer, LL.M.